Pflegende Angehörige als Ressource

Betrachtet man das Schweizer Gesundheitssystem mit seinem dichten Netz aus Spitälern, Spitex-Diensten und spezialisierten Pflegeheimen, entsteht der Eindruck eines reibungslos funktionierenden, institutionell gut abgestützten Gesamtsystems. Doch dieser Eindruck ist nur teilweise korrekt. Denn die unbezahlte Arbeit pflegender Angehöriger bildet ein zentrales Fundament, das vielerorts die formelle Versorgung erst tragfähig macht.

Schätzungen zufolge leisten pflegende Angehörige jährlich Betreuungs- und Pflegearbeit im Wert von 3,7 Milliarden Franken. Angesichts des demografischen Wandels und der wachsenden Nachfrage nach ambulanter Pflege ist es an der Zeit, diese stille Leistung und die dahinterstehenden Menschen stärker anzuerkennen und wirksamer zu unterstützen.

Wissen und Nähe als Qualitätsfaktor

Die Aussage, pflegende Angehörige seien das „Rückgrat“ der Versorgung, findet in Fachkreisen breite Zustimmung. Martin Beck von Asfam betont: „Ohne die tatkräftige Unterstützung pflegender Angehöriger könnte das hohe Qualitätsniveau in der ambulanten Versorgung, das wir heute in der Schweiz als selbstverständlich ansehen, nicht aufrechterhalten werden. Ihre Kenntnis der Persönlichkeit und individuellen Bedürfnisse der pflegebedürftigen Personen gehen weit über das hinaus, was professionelle Kräfte leisten können.“

Wirtschaftliche Bedeutung der informellen Pflege
 
Diese Nähe und Intimität, die Angehörige in die Pflege einbringen, sind entscheidende Faktoren für die Versorgungsqualität. Azra Karabegovic von Carela erläutert: „Wir beobachten, dass Angehörige Dinge ermöglichen, die für professionelle Dienste oft nicht machbar wären. Etwa, dass eine Person weiterhin selbständig zur Toilette gehen kann, anstatt auf Inkontinenzmaterial angewiesen zu sein. Das ist nicht nur würdevoller und gesünder für die betreuten Menschen, sondern spart langfristig Kosten und Ressourcen. Ohne diese Flexibilität würden wir deutlich häufiger erleben, dass Menschen früher als nötig ins Heim wechseln müssen.“
 
Diese Beispiele illustrieren den Wert der informellen Pflege: Pflegende Angehörige sind oft rund um die Uhr präsent und verfügen über ein tiefes Verständnis für die Lebenswelt der Betroffenen. Sie fungieren als Sensoren für körperliche wie psychische Veränderungen und reagieren flexibel auf Krisensituationen. Das Resultat ist nicht selten eine Verringerung von Krankenhausaufenthalten und damit verbundenen Gesundheitskosten.

Studien zufolge könnten die Pflegeausgaben ohne den Einsatz der Angehörigen um bis zu 50 Prozent steigen. Dr. Andreas Hellmann von Pflegewegweiser hebt den volkswirtschaftlichen Wert hervor: „Der wirtschaftliche Nutzen dieser Arbeit ist enorm. Würde die informelle Pflege durch Angehörige vollständig von professionellen Fachkräften übernommen, wären massive Kostensteigerungen die Folge. Das Gesundheitssystem stünde ohne diesen Rückhalt vor unlösbaren Finanzierungsproblemen.“

Die Schattenseiten der Pflegearbeit

Die Kehrseite dieser Leistung ist die enorme Belastung der Pflegenden selbst. Rund zwei Drittel der pflegenden Angehörigen sind erwerbstätig und reduzieren häufig ihr Arbeitspensum. Dadurch entstehen Lohneinbussen, Lücken in der Altersvorsorge und ein erhöhtes Risiko für psychische und physische Erschöpfung. Nicht selten fehlen geeignete Entlastungsangebote: Laut Erhebungen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) hat etwa die Hälfte der pflegenden Angehörigen keine Möglichkeit, einmal „durchzuschnaufen“.

Dabei ist bekannt, dass sich solche Auszeiten positiv auf die Gesundheit der Pflegenden sowie die Pflegequalität auswirken. Die Wünsche der Angehörigen sind klar: mehr Beratung durch Fachpersonen, Fahrdienste, Entlastung in Notsituationen, Unterstützung bei Versicherungsfragen und Anerkennung als vollwertige Partner im Pflegeprozess.

Strategische Unterstützung für pflegende Angehörige
 
Martin Beck (Asfam) sieht hierfür klare Hebel: „Wir müssen pflegenden Angehörigen den Zugang zu Schulungen und professioneller Beratung erleichtern. Gleichzeitig ist es notwendig, finanzielle Entschädigungen zu erweitern. Wer Pflegearbeit in einem solchen Ausmass leistet, erbringt eine öffentliche Dienstleistung – es ist nur folgerichtig, dafür auch eine angemessene Gegenleistung in Betracht zu ziehen.“
 
Die Organisationen, die mit pflegenden Angehörigen arbeiten, betonen, dass diese Zusammenarbeit zwischen formeller und informeller Versorgung kein Nischenthema mehr ist. Azra Karabegovic (Carela) unterstreicht: „Das Zusammenwirken von Spitex und Angehörigen ist kein Zufall, sondern ein wesentlicher Bestandteil unseres Systems.

Je besser wir diese Kooperation gestalten, desto länger bleiben Menschen selbstbestimmt in ihrer vertrauten Umgebung. Und je besser wir die Angehörigen dabei unterstützen, desto weniger häufig entstehen Krisen, die teure institutionelle Lösungen erzwingen.“

Weichenstellung für die Zukunft
 
Andreas Hellmann (Pflegewegweiser) sieht in der Stärkung pflegender Angehöriger eine strategische Investition in die Zukunft: „Angesichts der demografischen Entwicklung ist absehbar, dass wir auf diese Ressource nicht verzichten können. Wenn wir nun die richtigen Weichen stellen – etwa durch bessere Koordination, mehr Schulungen, finanzielle Anerkennung und Entlastungsangebote – sichern wir die Nachhaltigkeit unseres Gesundheitssystems langfristig.“

Partner, nicht Helfer: Die pflegenden Angehörigen sind also keineswegs nur ein stiller Helferkreis, der Lücken im System füllt. Vielmehr sind sie zu einer unverzichtbaren Grösse geworden, an der sich keine zukunftsgerichtete Gesundheitspolitik vorbeimogeln kann. Der Balanceakt, den sie leisten, ist jedoch fragil. Ohne gezielte Unterstützung drohen Überlastung, finanzielle Einbussen und letztlich auch ein Qualitätsverlust in der Versorgung. Das Schweizer Gesundheitssystem wäre gut beraten, diese Fundamentstütze nicht länger als selbstverständlich hinzunehmen, sondern pflegende Angehörige als strategische Partner einzubinden. Andernfalls ist die Stabilität des Systems in einer alternden Gesellschaft nicht zu gewährleisten.

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