Der Wert informeller Pflege
Informelle Pflege durch Angehörige oder nahestehende Personen ist ein essentieller, oft unsichtbarer Teil unseres Versorgungssystems. Doch wie lässt sich der Wert dieser Pflegeleistung wirtschaftlich messen?
Zwei Ansätze helfen, den monetären Wert der informellen Pflege sichtbar zu machen: die Ersatzkostenmethode („Replacement Cost Method“) und die Zahlungsbereitschaftsmethode („Contingent Valuation Method – Willingness to Accept“).
Ersatzkostenmethode – Was würde professionelle Pflege kosten?
Die Ersatzkostenmethode schätzt den Wert informeller Pflege, indem sie fragt: „Was würde es kosten, wenn statt des Angehörigen ein professioneller Pflegedienst diese Aufgabe übernehmen müsste?“.
In einer aktuellen Studie aus Spanien (2024) wurde hierfür ein Stundensatz von 15.66 Euro zugrunde gelegt. Hochgerechnet ergaben sich daraus jährliche Werte zwischen 71'653 und 83'984 Euro pro pflegender Person bei der Betreuung von Alzheimerpatienten. Auf nationaler Ebene entsprach dies beeindruckenden 1.19 bis 1.40 % des spanischen Bruttoinlandsprodukts.
Zahlungsbereitschaftsmethode – Was akzeptieren pflegende Angehörige als Ausgleich?
Im Gegensatz dazu fokussiert sich die Zahlungsbereitschaftsmethode (Willingness to Accept, WTA) auf die subjektive Sicht der Pflegenden. Sie fragt gezielt danach, welchen Mindestbetrag die pflegenden Angehörigen akzeptieren würden, um ihre Leistungen monetär auszugleichen.
Die spanische Studie verweist hier auf Werte von etwa 6.40 bis 6.90 Euro pro Pflege-Stunde. Daraus resultierte ein jährlicher monetärer Wert zwischen 31'584 und 37'019 Euro je Pflegeperson, was etwa 0.52 bis 0.62 % des BIP entsprach.
Die Ersatzkostenmethode liefert meist höhere Zahlen, da sie marktbasierte Preise für professionelle Pflege verwendet. Die Zahlungsbereitschaftsmethode hingegen reflektiert stärker die subjektive Wahrnehmung und persönliche Belastung der pflegenden Angehörigen.
Beide Methoden zeigen jedoch klar: Informelle Pflege ist ein entscheidender Wirtschaftsfaktor, der oft unterschätzt wird.
Weitere Erkenntnisse der Studie
Informelle Pflege, die von Familienmitgliedern oder Freunden geleistet wird, deckt über 80 % der Betreuung von Menschen mit Alzheimer-Erkrankung ab. Da diese Pflege jedoch unbezahlt erfolgt, wird sie von politischen Entscheidungsträgern oft unterschätzt oder sogar als „kostenlos“ betrachtet.
Zahlreiche ökonomische Studien ignorieren ihren tatsächlichen Wert, wodurch Bewertungen im Gesundheitswesen unvollständig bleiben. Tatsächlich gehen mehr als die Hälfte der ökonomischen Analysen davon aus, dass eine Stunde informeller Pflege lediglich dem Wert einer Stunde Mindestlohn entspricht.
Die Studie hinterfragt diese Annahme mit einem neuen ökonomischen Ansatz. Sie zeigt auf, dass der Wert informeller Pflege je nach Belastung und Auswirkung auf die Lebensqualität der Betroffenen variiert und deshalb nicht durch eine einzige Kennzahl dargestellt werden sollte.
Zudem weist sie nach, dass die in der Literatur verbreitete Annahme den tatsächlichen Wert informeller Pflege häufig unterschätzt. Ein realistisches Erfassen dieser Kosten könnte zu besseren gesundheitspolitischen Entscheidungen führen und die Bewertung von Therapien grundlegend verändern.
Fazit für aktuelle politische Diskussionen
Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Debatten in der Schweiz zur Angehörigenpflege, zu Betreuungszulagen, Hilflosenentschädigung und zum Assistenzbeitrag ist es unerlässlich, dass betreuende Angehörige mindestens eine konsolidierte Lohnsumme erhalten, die auf der Zahlungsbereitschaftsmethode (Willingness to Accept) basiert.
Die oft fragmentierten Diskussionen über den Wert der informellen Pflege – vor allem die aus Carer-Perspektive obsolte Abgrenzung zwischen Pflege und Betreuung – könnten zielführender gestaltet werden, wenn sie sich stärker auf ein gemeinsames Verständnis und eine klare Zieldefinition zur Gesamtkompensation konzentrieren würden. Statt unterschiedliche Stundensätze für Kleinstpensen der verschiedenen Sozialversicherungen (wie OKP, AHV, IV), Restkostenfinanzierungen und Betreuungszulagen der Kantone und Gemeinden gegeneinander auszuspielen, wäre eine gesamtheitliche Betrachtung deutlich hilfreicher.
Zudem sollte besonders berücksichtigt werden, dass betreuende Angehörige – abhängig von ihrer jeweiligen Situation und entgegen den aktuellen politischen sowie medialen Annahmen – durchaus dazu bereit sein könnten, Vergütungen unterhalb üblicher Mindestlöhne zu akzeptieren (Willingness to Accept). Aus diesem Grund ist es entscheidend, bei einer möglichen Unterstellung dieser Tätigkeiten unter arbeitsrechtliche Regelungen besonders sorgfältig und differenziert vorzugehen, um ungewollte Bumerang-Effekte zu vermeiden.
In einer Aging Society und der damit einhergehenden Umstellung hin zu einer Care-Economy stellt sich die Frage, ob Sozialversicherungsleistungen für informelle Pflege genutzt werden sollten, um die Wirtschaftsleistung zu steigern, oder ob staatliche Mittel eher in die Sozialhilfe fliessen sollen, denn wie die Studie bemerkt ist unentgeltlich erbrachte informelle Pflege für eine Volkswirtschaft nicht kostenlos.
Dabei ist es besonders wichtig, dass wir alle Elemente – sowohl die professionellen Angebote (wie Entlastung, Betreuung und Pflege) als auch die informell erbrachten und teilfinanzierten Leistungen der betreuenden Angehörigen – als ganzheitlichen, koordinierten „Care-Mix“ verstehen. Diese unterschiedlichen Bereiche ergänzen sich idealerweise gegenseitig und stärken gemeinsam die gesamte Versorgungssituation.
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