Das Leben mit und für einen hilfsbedürftigen Menschen kann belastend sein. Als Gesundheitspsychologin und selber Betroffene weiss Michèle Bowley aber auch, was guttut. Die "Zehn Schritte für psychische Gesundheit" legt sie allen ans Herz.
Rich Züsli:
Sie legen die "Zehn Schritte für psychische Gesundheit" allen betreuenden Angehörigen ans Herz. Entwickelt wurden sie aber für eine breitere Allgemeinheit, nicht?
Michèle Bowley:
Es ist ein wirklich praktisches Instrument, das das Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz im Internet frei zur Verfügung stellt. Es wurde dieses Jahr von Gesundheitsförderung Schweiz sogar in einer kleinen Broschüre leicht adaptiert an die Bedürfnisse von betreuenden Angehörigen. Die zehn Schritte sind für alle geeignet und reichen von bewusster Entspannung bis zum Entdecken von Neuem. Es geht bei allen Schritten darum, wie die psychische Stärke aufgebaut oder erhalten werden kann.
Psychische Stärke kann man immer gebrauchen. Gerade betreuende Angehörige sind oft belastet. Aber ist Belastung nicht auch etwas sehr Subjektives?
Ja genau: Man darf die Belastung natürlich nicht verallgemeinern. Die Situationen sind doch oft sehr verschieden. Selbst bei äusserlich gleichen Situationen reagieren pflegende und betreuende Angehörige sehr individuell darauf. Was für den einen belastend ist, muss es für die andere nicht sein.
Welche Art von Belastungen treffen Sie an?
Eigentlich sind es drei Hauptgruppen: 1. Die Koordination – alles unter einen Hut zu bringen, 2. Die Beziehung – zum Beispiel Rollenveränderungen in der Partnerschaft und 3. Persönliche Herausförderungen – etwa Hilflosigkeit oder Konfrontation mit Sterben und Tod.
Gerade mit der letztgenannten Belastung – Konfrontation mit Sterben und Tod – haben Sie sich in jüngster Zeit stark auseinandergesetzt.
Auf der Webseite "Tabu Sterben" spreche ich dieses für fast alle Menschen sehr belastende Thema an.
Sie geben in kurzen Tagebuch-Videos Einblicke in Ihren Alltag als Palliativpatientin. Man sieht Sie zum Beispiel beim Coiffeur, wo sie nach einer Rasur eine Perücke ausprobieren. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Auch das ist einer der zehn Schritt zur Stärkung der Psyche: Etwas Neues lernen. Für die Webseite "Psyche stärken" habe ich in den letzten Monaten gelernt, Videos zu produzieren und zu schneiden. Das gibt mir viel.
Sogar zur Chemotherapie geht man mit Ihnen in diesem Tagebuch. Können Sie als Betroffene über Sterben und Tod offener sprechen als andere?
Eine wiederholte Krebsdiagnose hat mich zur "liebevollen Tabubrecherin" gemacht. Das heisst, als Betroffene im Umgang mit den Tabuthema Krankheit, Sterben und Tod engagiere ich mich dafür, dass Menschen Impulse erhalten, die es Ihnen ermöglichen, sich mit dem Leben und Sterben auseinanderzusetzen. Mit dem Krebstagebuch und anderen Beiträgen möchte ich solche Impulse vermitteln.
Fehlt es im hektischen Alltag nicht einfach auch an der nötigen Ruhe und Zeit, um sich mit solchen Fragen tiefer zu befassen?
Das entscheidet man jeden Tag selber. Einer der zehn Schritte lautet: "Halte Kontakt mit Freunden". Vielleicht geht das nur mit regelmässigen Auszeiten und indem man Entlastungsangebote wie Tagesstätten, Spitex oder einen Besuchsdienst von Freiwilligen nutzt. Wo vorhanden können auch andere Angebote Zeit verschaffen, wie zum Beispiel Nachbarschaftshilfen für Einkäufe, Hausarbeiten, leichte Gartenarbeiten, Schreibarbeiten, einfache Handwerkerarbeiten, das Blumen-Giessen, zum Spazieren, Betreuen von Tieren und vieles mehr.
Ein anderer der zehn Schritte lautet "Entspanne dich bewusst". Wie soll jemand, der oder die zum Beispiel eine demente Person betreut, zu einer Pause kommen?
Auch hier ein Tipp: Man braucht nicht unbedingt lange Pausen, sondern genügend Pausen. Lieber mehrere kleine Pausen über den ganzen Tag verteilen. Warum sich nicht mit einem Wecker daran erinnern, wenn es dafür wieder Zeit ist oder mit einer Atem-App zwischendurch schnell zur Ruhe kommen? Manchmal hilft schon für einen Moment ein Blick ins Grüne.
Viele Mitglieder und SympathisantInnen von Pro Aidants sind betreuende Angehörige. Gibt es einen Tipp, der besonders auf sie zugeschnitten wäre?
In einer Selbsthilfeorganisation ist es naheliegend, miteinander zu reden. "Geteilte Sorgen sind halbe Sorgen" heisst es doch so schön. Aber auch "geteilte Freude ist doppelte Freude", gerade wenn man sich mit anderen Menschen in ähnlichen Situationen auszutauschen kann. So trifft man auf Verständnis und erfährt auch deren Lösungswege. Und so spürt man, dass man nicht alleine ist und die Situation sich ja auch wieder verändert.
Danke dafür, dass Sie trotz der knappen Ihnen noch verbleibenden Zeit mit diesem Interview und den weiterführenden Links betreuenden Angehörigen weiterhin Impulse vermitteln.
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