Rückblick auf das Mediengespräch
Zum Tag der betreuenden Angehörigen, dem 30. Oktober 2021, fordert Pro Aidants an einem Mediengespräch in Zürich alle Akteure auf, betreuende Angehörige mit einer digitalen Strategie in die Lage zu versetzen, Sorge zu leisten.
Die betreuenden Angehörigen waren das Rückgrat des Sozial- und Gesundheitswesens während der Corona-Pandemie, ohne dabei vom System unterstützt worden zu sein. Der Angehörigenverein Pro Aidants fordert deshalb schnelle weitergehende Schritte betreuende Angehörige – gerade in Krisen - besser in politische Entscheidungsfindungen zu integrieren und in der Angehörigenbetreuung koordinierter zu unterstützen, effektiver zu entlasten und fairer zu entschädigen.
Betreuende Angehörige verdeutlichten am Anlass die Positivität in der Begleitung von Menschen und rufen andere betreuende Angehörige auf, sich als solche zu erkennen zu geben und um Hilfe und Entlastung nachzufragen.
Wer sind betreuende Angehörige?
Wir haben in der Schweiz rund 600’0000 betreuende Angehörige, die sich um hilfsbedürftige Menschen kümmern. Es kann also gesagt werden dass betreuende Angehörige den grössten Betreuungsdienst in der Schweiz darstellen.
Die Mehrheit der Zeit wenden sie für Finanzielles und Administratives für die betreute Person auf. Sie helfen bei der Koordination der Betreuung und Pflege, leisten Hilfe im Alltag und Haushalt und emotionalen Support. 4/5 der betreuenden Angehörigen haben einen Job.
Wer sind die Betreuenden, wer die Betreuten? Angehörige im Alter zwischen 50-64 Jahren kümmern sich um die ältere Generation wie Eltern, Schwiegereltern, Grosseltern. Im höheren Alter werden mehrheitlich die Partner betreut. 50’000 Kinder und Jugendliche kümmern sich um ihre Eltern oder Geschwister.
Betreuende Angehörige erhalten Unterstützung durch Fachpersonen aus dem Sozial- und Gesundheitswesen, Haushalts- und Putzhilfen, Tagesheime oder Tagesstätten. Angehörige leisten in der Schweiz imposante 80 Millionen Stunden unbezahlte Carearbeit. Der Wert für diese Arbeit beträgt 3.7 Milliarden Franken. Betreuende Angehörige sind besonders froh über Angebote im Bereich der Notfallhilfe, schätzen Gespräche mit Gesundheitsfachpersonen, nutzen Fahrdienste für die betreute Person, benötigen Rat bei Geld- und Versicherungsfragen und Hilfe, um sich selbst zu erholen.
Wer ist Pro Aidants?
Pro Aidants ist die Schweizerische Interessenvertretung für betreuende Angehörige. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, eine soziale Infrastruktur zur Organisation und Koordination der Betreuung, Pflege und Gesundheit zu etablieren sowie bessere Rahmenbedingungen für betreuende und pflegende Angehörige zu schaffen. Pro Aidants ist gemeinnützig und nicht-gewinnorientiert. Seit Ende Dezember 2018 wurden 100 Diskussionen geführt mit 500 Kommentaren. An 50 Abstimmungen wurde das Stimmrecht 80 Mal ausgeübt.
Die durch Direktbetroffene gesteuerte Angehörigenorganisation orientiert sich mit Ihren Wirkungszielen an der Agenda der vereinten Nationen, dazu gehört die Verringerung der Armut. Oft beanspruchen die Schwächsten nicht, was ihnen zusteht. Unbezahlte Care-Arbeit erhöht das Risiko der Altersarmut. Im Bereich der Gesundheit sind es vor allem Familien des unteren Mittelstands, welche möglichst kostengünstige Versorgungslösungen im Verhältnis zu ihrem Einkommen benötigen. Frauen sind überproportional betroffen und geben ihre Erwerbstätigkeit häufiger auf, um Angehörige zu betreuen. 70% der unbezahlten Care-Arbeit wird von Frauen geleistet, was eine Ungleichheit darstellt.
Die Schweiz benötigt eine Carer-Strategie
Pro Aidants nennt betreuende Angehörige auch Carer. Wir orientieren uns an einer 10-Punkte-Strategie, um betreuende Angehörige in die Lage zu versetzen, Sorge zu leisten. Diese wird Schritt für Schritt umgesetzt - mit digitalen Möglichkeiten. Das Ziel der Strategie ist, Carer in alle Politikbereiche einzubeziehen.
Dazu gehört, Carer zu definieren und wertzuschätzen. Hier wurden mit dem Tag der betreuenden Angehörige grosse Fortschritte erzielt, dank verschiedenen Kantonen. Dabei gilt es, Carer zu identifizieren. Hier hat das BAG mit den Forschungsprogrammen grossartige Arbeit geleistet und den Bedarf und die Bedürfnisse von Carer erhoben. Das Handlungsfeld gute Betreuung im Alter wird am heutigen Tag fokussiert behandelt. Es geht dabei um die Definition der Betreuung und deren Finanzierung. Die Koordination der verschiedenen Anbieter der Betreuung und Langzeitpflege ist eine Kerntätigkeit von Pro Aidants. Daneben vermittelten wir Informationen zur Angehörigenbetreuung. Carer dürfen nicht überlastet werden und benötigen Entlastungsdienste. Wichtig ist auch der Zugang zu Aus- und Weiterbildungen, damit Carer nach ihrer Tätigkeit schnell wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können.
Stimmen von Carern
Das Bewusstsein steht an vorderster Front, dass jeder von uns in seinem Leben einmal die Rolle eines betreuenden Angehörigen erfahren wird. Angehörigenbetreuung ist ein Thema, das uns alle betreffen wird. Am Anfang der Reise sind Carer meist überfordert mit der Situation. Erfahrene betreuende Angehörigen können mit ihrer Erfahrung dabei helfen. Daneben spielt das Versorgungsnetzwerk aus dem sozialmedizinischen Umfeld eine entscheidende Rolle. Wichtig dabei ist nicht alleinverantwortlich für die Aufgabe zu sein. So wie im Flugzeug, wo die Maske zuerst selbst angezogen werden sollte, damit man anderen Menschen helfen kann, ist es für betreuende Angehörige wichtig, zu sich selbst Sorge zu tragen, die Selbstfürsorge. Das Netzwerk spielt eine wichtige Rolle, damit der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen wird und keine Erschöpfung eintritt. Es geht dabei um Bewegung, soziale Kontakte, Entlastung in der Betreuung und gezielte Suche nach finanzieller Unterstützung.
Die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung ist essenziell für das gesamte Leben. Und jeder der beteiligten Akteure kann einen Beitrag dazu leisten. Die Aus- und Weiterbildung hilft sehr stark, denn dadurch spürt man die eigene Kompetenz im Dialog mit den involvierten Stellen, wie Spitex, Ärzten, Behörden, etc. aus einer gemeinsamen Perspektive – dies ist für das Wohlbefinden entscheidend und hilft auch Arbeitsmarktfähig zu bleiben.
Für die betreuenden Angehörigen war die Pandemie mit der Lösung “Bleiben sie zu Hause” ein vielfach grösserer Aufwand. Menschen entwickelten Berührungsängste gegenüber Senioren. Auch Zugangsbeschränkungen erschwerten die Sorgearbeit. Im Gesundheitswesen wurde schnell viel dazu gelernt, dazu gehörten digitale Angebote oder nützliche Apps.
Im Hinblick auf die künftigen Anforderungen, wie Fachkräftemangel und demographische Entwicklung, wird die Gesellschaft weiterhin auf die Schlüsselressource betreuende Angehörige setzen müssen. Auf diese kann aufgrund des sozialen Wandels der Gesellschaft nicht wie im bisherigen ehrenamtlichen Modell zurückgegriffen werden. Es werden neue Finanzierungsmodelle nötig, die Angehörigenbetreuung fairer zu entschädigen.
Finanzierung von Betreuung
Die Finanzierung der hohen Kosten der Betreuung im Alter ist das dominierende Thema von Angehörigen. Im Jahr 2021 wurden die bezahlten Urlaubstage für die Betreuung von Angehörigen und kranke Kinder von zehn Tagen bis vier Wochen eingeführt. Daneben wird das Betreuungsguthaben bei der AHV schon bei mittlerer Hilflosigkeit gewährt. Dies ist eine sehr erfreuliche Entwicklung.
Um die Finanzierungsansprüche besser zu verstehen, wurde am Anlass ein Betreuungsrechner für Angehörige in Aussicht gestellt. Der Dienst soll auf Websites von Kantonen betreuenden Angehörigen dabei helfen, Finanzierungsansprüche für die Betreuung und Pflege von Angehörigen zu finden. Viele Angehörige wissen zum Beispiel nicht, dass die heute bereits verfügbare «Hilfslosenentschädigung» als ein «Betreuungsbeitrag» via Vorsorgeauftrag an die betreuenden Angehörigen ausbezahlt werden kann.
Angehörige auf der politischen Agenda
Christiane Eggert vom Gesundheitsamt Kanton Graubünden stellte als soziale Innovation den im Regierungsprogramm 2021 – 2024 erhaltenen Projektauftrag vor. Mit Entlastung betreuender und pflegender Angehörigen durch unterstützende Angebote sowie Entschädigung betreuender und pflegender Angehörigen vor Eintritt in das AHV-Alter.
Maja Nagel von der Paul Schiller Stiftung ging in der politischen Diskussion einen Schritt weiter und fordert ein neues Kosten- und Finanzierungsmodell auf nationaler Ebene: «Betreuungsgeld für Betreuungszeit» auch für Angehörige.
Anstellung von Angehörigen
Als Modell guter Praxis wurde die Fachstelle für häusliche Betreuung und Pflege Vaduz, Fürstentum Liechtenstein, genannt. Die Stelle hilft Löhne für Angehörige und Angestellte ordnungsgemäss abzurechnen. Romano Ricciardi vom Verband der Spitexorganisationen für pflegende Angehörige bestätigt die steigende Nachfrage von Angehörigen sich anstellen zu lassen. Damit die Angehörigen bestmöglich unterstützt werden, verpflichten sich die Verbandsmitglieder zu Qualitätskriterien in der Pflege sowie der Administration.
Gute Betreuung im Alter
Die Diskussion am Mediengespräch ergab, dass eine qualitativ gute Betreuung im Alter erst im Zusammenspiel der informellen und professionellen Betreuenden erreicht wird. Oft sind zwei oder drei verschiedene Leistungserbringer z.B. Angehörige plus Betreuungsdienste, Spitex oder andere Freiwilligendienste (oder Angehörige plus und/oder private Angestellte) nötig, damit eine Betreuung situationsgerecht organisiert werden kann, ohne dabei einzelne Leistungserbringer zu überlasten.
Zum Schluss bedankten sich alle Teilnehmenden mit einem Applaus für das unverzichtbare Engagement der betreuenden Angehörigen.